05.11.2020 | Offener Brief des Berliner Künstlers Malte Zenses: NEUSTART 2.0 (NEUSTART KULTUR)

Offener Brief

Wir sind viele.
Und dies ist ein offener Brief.

zur Petition: https://www.change.org/p/staatsministerin-monika-grütters-neustart-2-0

Zunächst sollten wir begreifen, dass die Kultur als einer der wichtigsten Orte unserer vielfältigen Gesellschaft fungiert, sie erschafft Welten, arbeitet unabhängig  und kritisch, und vermittelt Werte. Kunst und Kulturstätten sind wichtige Foren der Begegnung und des gesellschaftlichen Austausches, Orte an denen man sich vergegenwärtigen kann, dass wir eine Gesellschaft bilden und zusammen einen lebhaften Diskurs führen können.

Der zweite Lockdown ist eine Bedrohung für die Diversität der Kunst und Kultur.
Ohne all das entwickelt sich die Gemeinschaft zurück zum „Individuum“, ein passiver Zustand der das Mitgestalten des Zeitgeistes und des Jetzt außen vor lässt. Ohne diese Orte, ohne die Kunst und Kultur, ohne den Austausch, gibt es nur noch ein vages Erinnern an eine kulturelle Echtheit.

Kurz: keine Kulturstätten = keine gesellschaftliche Reflektion

Die Krise zeigt deutlich, dass der Stellenwert der Kunst und kulturschaffenden Menschen durch die Politik bloß geringgeschätzt und geschützt wird. IKEA muss unbedingt geöffnet bleiben, das Theater lieber nicht. Ohne Einkaufszentren ist das Leben nicht lebenswert, Museen könnten dafür ja schließen.

Subsumiert: Kultur ist Freizeitaktivität!

Die Kunst und Kultur wird und wurde bisher immer als gegeben erachtet und gerade jetzt in dieser langen Krisenzeit werden die Menschen, die hinter all dem stecken, kaum gesehen. Die Menschen, die tagtäglich daran arbeiten unsere Kultur und unseren Zeitgeist zu reflektieren, sind jetzt zu Millionen in ihrer Existenz bedroht und fühlen sich allein gelassen mit ihren schweren finanziellen Nöten. Das Hinnehmen von prekären Beschäftigungen und die geringe soziale Absicherung von selbstständigen KünstlerInnen und Freischaffenden rächen sich nun in der Krise, wie in so vielen anderen Branchen auch. Vom Applaus allein zahlt niemand die Miete. Die Entscheidung der Regierung zur Schließung von Theatern, Museen und kleineren Kulturstätten lässt nun auch den letzten anerkennenden Applaus verstummen. Und mit ihm verlässt uns nun auch der Mut in die Zukunft zu blicken.

Die Regierung stellt Milliarden an Geldern bereit für “NEUSTART” Förderungen - Arbeitsstipendien für Freischaffende in Kunst und Kultur. Diese Hilfen sollen von der Krise getroffenen KünstlerInnen wieder ein sicheres Fundament bieten. Also genau all diesen Menschen helfen, die durch fehlende finanzielle Puffer momentan keinen Beitrag zu unserer Kultur mehr leisten können. Darunter fallen freischaffende KünstlerInnen, Projekträume, Off Spaces, Kunstvereine, kleine Galerien und Theater genauso, wie BühnenkünstlerInnen, Musikschaffende und die Kunstvermittlung. Die Vergabe dieser Hilfen jedoch von den gleichen Akteuren koordinieren zu lassen, die sich sonst auf die Produktion von international wettbewerbsfähigen Kassenschlagern konzentrieren, ist unter diesem Gesichtspunkt einfach nur eine perfide Anmaßung.

Die Zeit der Krise ist keine Zeit für elitäre Vergabesysteme.
Ist keine Zeit der Spitzenförderung von Blockbuster-Formaten oder bereits etablierten Kunst- und KulturakteurInnen.

Um eine lebendige Kultur zu erhalten, bedarf es Diversität und einen chancengleichen Zugang zu den Schauplätzen der Gesellschaft und die bleibt in der Krisenzeit besonders denjenigen als erstes verwehrt, die sich noch nicht durch öffentliche Hand oder hochkarätig dotierte Galerien/Theater/Platten-Verträge gefördert wissen.

Geld sucht Geld, die Liste des letzten Kunstfonds Neustart Stipendiums und anderen Stiftungen, zeigt wie elitär und/oder willkürlich (Kulturprojekte Berlin GmbH) die Vergabe der wohlgemeinten „Nothilfen“ selbst in Krisenzeiten noch ist. Auf der Liste tummeln sich doppelt und dreifach geförderte und etablierte KünstlerInnen, deren Namen schon längst Einlass in das Kulturkapital unseres Landes erhalten haben.

Gilt es aber nicht gerade jetzt kleinere AkteurInnen der Kultur zu fördern, diejenigen Menschen, bei denen durch die Krise als erstes das Licht im Studio ausgehen wird? Gilt es nicht dafür zu sorgen, dass wir auch noch nach der Krise auf eine lebendige und pluralistische Kulturlandschaft schauen können, anstatt nur den großen Playern der Szene das kulturelle Sprachrohr zu überlassen?

Natürlich, das Geld ist auch so wichtig und gut angelegt. Kultur besteht allerdings aus mehr als nur Kassenschlagern, es braucht genau die Vielfalt, die als erstes verloren gehen wird, wenn wir nur den Exzellenzen eine finanzielle Sicherung anbieten. Mit Nothilfe hat dieses Programm wenig zu tun. Die Niederlande machen es vor mit ihren unbürokratischen Zuschüssen für Selbstständige, das Einfüllen der Steuernummer, ein kurzer Check der wirtschaftlichen Tätigkeit sollte genügen um Gelder für bedürftige Kulturschaffende zu verteilen (Tozo, tijdelijke overbruggingsregeling). Sonst fragen wir uns spätestens beim Blick in die Spielpläne der Theater und Ausstellungskalender in den nächsten Monaten, warum nur noch die großen Produktionen übrig geblieben sind.

Wir fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen für Kulturschaffende während der stark eingeschränkten Zeiten oder eine erneute, faire und chancengleiche Verteilung des „NEUSTART“-Geldes.

Unabhängig von elitären Stiftungen und erschwerenden Bürokratiehürden.
Bundesweit und einheitlich.

Malte Zenses