29.04.2021 | Pressemitteilung des bbk berlin: Der tiefe Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Der bbk berlin zur Altersarmut von Künstler*innen

"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" – Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 1.

Anspruch

Danach ist "die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat" und "die Verfassung gibt auf diese Weise ein höchstes Ziel für jede staatliche Aktivität vor." – Bundesverfassungsgericht 1961. Das bedeutet: Es gibt ein "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums", das "für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich" ist.  "Dieses Grundrecht (…) ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden" – Bundesverfassungsgericht 2010.

Wirklichkeit

Tatsächlich ist die Ungerechtigkeit in der Verteilung materieller Ressourcen und Lebenschancen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland immer größer geworden und es kann für viele von der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht wirklich die Rede sein.

Ein Beispiel aus unserer Arbeit:

Dank einer großzügigen Spende der Giesecke+Devrient Stiftung kann der bbk berlin an 29 Künstler*innen über 60 Jahre, deren künstlerische Existenz durch die Pandemiefolgen bedroht ist, jeweils einen Zuschuss von 2.000 Euro auszahlen. Auch dank der Unterstützung von Kultursenator Klaus Lederer hoffen wir, dass diese Zahlungen zumindest bei Empfänger*innen von Grundsicherungsleistungen auf diese nicht angerechnet werden.

So großartig diese Unterstützung jeweils im Einzelfall ist: sie ändert natürlich nichts an den strukturellen Defiziten der Sozial- und Gesellschaftsordnung in Deutschland.

80 Künstler*innen hatten den Zuschuss 60+ beim bbk berlin beantragt.

Ihre Biographien zeigen beispielhaft:

Kulturelle Leistung, dichte künstlerische Lebensläufe und hohe fachliche Anerkennung schützen nicht vor unwürdiger Armut im Alter. Frauen sind davon noch stärker als Männer betroffen. Ältere Künstler*innen werden strukturell im Stich gelassen, denn künstlerisches Schaffen hört nicht mit Eintritt in die Rente auf, Hartz IV oder "Grundsicherung" im Alter machen die Weiterarbeit meist unmöglich und schließen von beruflicher und sozialer Teilhabe aus.

Damit finden wir uns nicht ab.

Vom neu zu wählenden Bundestag werden wir mit Nachdruck einfordern, den faktischen und durch nichts zu rechtfertigenden Ausschluss der großen Mehrheit der Künstler*innen aus der 2020 beschlossenen neuen Grundrente sofort zu beenden. Trotz jahrzehntelanger Vollerwerbstätigkeit und Beitragszahlung ist die derzeit geltende Bezugsvoraussetzung, nach der wenigstens 30% des Durchschnittseinkommens aus unselbständiger Arbeit erwirtschaftet sein muss, für sie unerreichbar.

  • Wir treten ein für faire Honorierung und Bezahlung jeder künstlerischen Leistung, ob im Rahmen öffentlicher Förderung, ob durch öffentliche oder private Hand.
     
  • Wir treten ein für ein Neudenken in der Kunst- und Künstler*förderung, damit künstlerisches Arbeiten in der Breite und in jedem Alter kontinuierlich ermöglicht und gewährleistet wird.
     
  • Wir treten ein für Grundsicherungsleistungen, die jedem bedingungslos ein Leben in Würde ermöglichen, und damit für eine Überwindung des "Hartz IV"- Systems, das noch immer den Faktor Arbeit, ob abhängige oder selbständige, dem Kapital ausliefert.
     
  • Wir treten ein für ein Rentenversicherungssystem, das Alterssicherung nicht privatisiert und das Kapital nicht subventioniert.
     
  • Wir treten ein für eine Überwindung der inzwischen verfestigten Niedriglohnsektoren in der Kultur, wie in vielen anderen Lebens- und Arbeitsfeldern.
     
  • Wir treten ein für eine gerechte Bewertung von ehrenamtlicher und Familienarbeit.

Damit Leben und Arbeiten nicht der Not abgetrotzt werden müssen, damit Altwerden ohne Not selbstverständlich werden kann.

 

Zoë Claire Miller und Heidi Sill
Sprecherinnen des bbk berlin

bbk berlin We got your back