08.01.2024 | Offener Brief an die Berliner Senatskulturverwaltung und an Joe Chialo, Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Offener Brief

Wir informieren über einen offenen Brief von Berliner Kulturproduzent*innen aller Sparten "Für die Wahrung von Kunst- und Meinungsfreiheit":

 

Offener Brief an die Berliner Senatskulturverwaltung und an Joe Chialo, Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Wir – Berliner Kulturproduzent*innen aller Sparten – protestieren:

Für die Wahrung von Kunst- und Meinungsfreiheit 

Gegen den Bekenntniszwang zur umstrittenen IHRA-Definition von Antisemitismus als Voraussetzung für Kulturförderungen des Landes

Gegen die politische Instrumentalisierung von Antisemitismusklauseln

Die Berliner Senatskulturverwaltung plant, die Vergabe von Förderungen aus dem Kulturhaushalt des Landes Berlin ab sofort an die Bedingung zu knüpfen, dass eine Antisemitismus-Klausel durch die Antragsteller*innen unterschrieben wird. 

Wer die Antisemitismus-Klausel in der vorliegenden Form unterschreibt, bekennt sich zu einer „vielfältigen Gesellschaft“ und gegen „jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung."[1]

Diese Entscheidung der Senatskulturverwaltung erkennt nicht an, dass es eine kontroverse Debatte um die Antisemitismus-Definition der IHRA[2], sowie eine von internationalen Wissenschaftler*innen erarbeitete Alternativ-Definition, die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus[3], gibt. Letztere wurde explizit in der Absicht verfasst, einer missbräuchlichen politischen Instrumentalisierung von Antisemitismus-Zuschreibungen entgegenzutreten und reagiert auf Unklarheiten innerhalb der IHRA-Definition.

Wir protestieren in aller Deutlichkeit gegen die Aufnahme dieser spezifischen Antisemitismusklausel als rechtsverbindliche Voraussetzung für Kulturförderungen durch das Land Berlin. 

Die Maßnahme wurde ohne eine vorherige offene Debatte oder Konsultation oder eine andere transparente Entscheidungsfindung insbesondere mit betroffenen Personen, Verbänden und Institutionen durchgeführt. Dieses Verständnis von Meinungs- und Kunstfreiheit ist zutiefst undemokratisch! Die Senatskulturverwaltung verkennt, dass ein erzwungenes Bekenntniss ein Eingriff in die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte ist.[4]

Die Erhebung einer bestimmte Definition von Antisemitismus zur kulturpolitischen Doktrin durch die Senatskulturverwaltung stellt eine absolute Ausnahme in der Ausdifferenzierung dar, die es für keine andere Diskriminierungsdimension gibt. Wir sind gegen diese Hierarchisierung von Diskriminierungsformen und (Auf-)Spaltung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen und halten dies für gefährlich.

Wir sehen den Kampf gegen jegliche Formen von Diskriminierung und Ungleichheit als Aufgabe, die sich auch in der Kultur stellt. Der Kampf gegen Rassismus geht Hand in Hand mit dem Kampf gegen Antisemitismus, wie auch gegen Islamophobie. Es ist unser Anliegen, all diese Kämpfe solidarisch und unabhängig von tagesaktuellen Anlässen zu führen. 

Die grausamen Ereignisse des 7.Oktobers, der Krieg in Gaza und die zugespitzten polemischen Debatten, die hierzu in Deutschland geführt werden, lassen jedoch befürchten, dass Bekenntnisklauseln, wie sie hier vorgelegt werden, einzig dazu dienen, eine verwaltungsrechtliche Grundlage für Ausladungen und Absagen von Veranstaltungen mit israel-kritischen Kulturarbeiter*innen zu schaffen[5]. Das betrifft auch jüdische Kulturschaffende in Deutschland, die sich mit Palästina solidarisieren, sich für Dialog und Friedenslösungen einsetzen, und die hier von nicht-jüdischen Deutschen mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert werden – eine äußerst beschämende und absurde Konstellation!

Die „nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition von Antisemitismus" der IHRA dient einem besseren Monitoring von gesellschaftlichen antisemitischen Tendenzen und nicht der Strafverfolgung. Sie ist nicht zur staatlichen Sanktion kultureller Äußerungen und Einladungspolitiken intendiert und ist aufgrund ihrer offenen Formulierungen hierfür ungeeignet. Die durch die Bundesregierung angefügte Erweiterung der IHRA Definition spitzt diese noch expliziter auf eine einseitige Anwendung in Bezug auf Kritik an der Politik der israelischen Regierung zu. [6]

Die interpretationsoffene IHRA-Definition von Antisemitismus als Sanktionsinstrument zum möglichen Entzug von Fördergeldern einzusetzen, ist fatal! 

Der Entzug finanzieller Förderung und öffentlicher Plattformen wird aktuell als Druckmittel eingesetzt, um kritische Positionen zur Politik der israelischen Regierung und zum Kriegsgeschehen in Gaza aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen. Die geplante Klausel erleichtert es Verwaltung und Politik, dieses Druckmittel zum Einsatz zu bringen und den Raum für notwendige Diskurse einzuengen. 

Internationale und insbesondere palästinensische Künstler*innen sind von der Klausel besonders betroffen. Bereits jetzt berichten viele, dass sie sich aufgrund ethnischer oder religiöser Zuschreibungen unter Generalverdacht gestellt fühlen. Es entsteht ein Klima der Angst in einem Feld, in dem viele von uns bereits prekären Arbeitsverhältnissen und Aufenthaltstiteln ausgesetzt sind. Das schon jetzt existierende Ausmaß an Selbstzensur schadet dem Berliner Kultursektor. Von dieser Einschüchterung und Verunsicherung sind nicht nur Einzelpersonen betroffen, sondern auch Institutionen, wie sich an den wenigen öffentlichen Stellungnahmen von institutioneller Seite ablesen lässt.

Das Vorgehen bedeutet einen Rückschritt bezüglichen der erfolgreichen Bestrebungen der letzten Jahre zur Diversifizierung und Öffnung des Berliner Kunst- und Kultursektors zu einem Standort internationaler Kunstdiskurse. Wir verurteilen das repressive kulturpolitische Zeichen, das damit gesetzt wird.

Es ist zu erwarten, dass Antragsteller*innen in vorauseilendem Gehorsam bestimmte Gruppen und Personen von geplanten Projekten ausschließen. Die Befürchtung ist, dass durch die vorliegende Antisemitismusklausel niemand geschützt, aber viele gefährdet werden.

Die Senatskulturverwaltung trägt mit ihrem Vorhaben aktiv zur weiteren Zuspitzung der aggressiven und oft unsachlichen öffentlichen Debatte und zur Vertiefung gesellschaftlicher Spaltung bei. Diskussions- und Lernräume, in denen politische Zusammenhänge kulturell vermittelt und Debatten ermöglicht werden könnten, werden so verhindert, anstatt gefördert. Dies widerspricht dem eigenen Bekenntnis zu einer vielfältigen Gesellschaft.

Es ist nicht Aufgabe der Kulturverwaltung, die gesellschaftlichen Grenzen der Kunst- und Meinungsfreiheit vorzugeben, sofern sich die Meinungsäußerungen im legalen Rahmen bewegen. Vielmehr ist dies die komplexe Aufgabe der Kultur selbst, der Wissenschaft und der kritischen Öffentlichkeit. In diesem pluralen Feld gilt es, gesellschaftliche Normen und Übereinkünfte für ein gesellschaftliches Zusammenleben zu erarbeiten. Normen sind kein Herrschaftsinstrument, und in keinem Fall können sie gegen verfassungsmäßige Rechte von Individuen und Gruppen in Stellung gebracht, oder als Druckmittel eingesetzt werden, um gesellschaftliche Debatten zu ersticken. 

In der Kulturförderung gilt das Prinzip der Gleichstellung unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischem oder religiösem Hintergrund oder politischer Positionierung. Die Relevanz und Qualität aller geförderten Kulturprojekte wird durch qualifizierte Fachjurys und Gremien sichergestellt. 

Wir als Künstlerinnen verwehren uns gegen politische Eingriffe in die Funktion, Methoden und Freiheit der Kulturproduktion und fordern die Senatskulturverwaltung auf, die Antisemitismus-Klausel umgehend zurückzunehmen!

Fußnoten:

[1] Die Klausel wird bereits im aktuellen Bewerbungsverfahren für die Wiederaufnahmeförderung angewendet. Siehe Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhang vom 03.01.2024: berlin.de/sen/kultgz/aktuelles/pressemitteilungen/...

[2] holocaustremembrance.com/de/resources/working-defi...

[3] https://jerusalemdeclaration.org/

[4] Argumentation hierzu unter: verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arb...

[5] https://linktr.ee/archiveofsilencenews.artnet.com/art-world/germany-cancellations-24...

[6] antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempf...

Die Bundesregierung hat folgende Erweiterung verabschiedet: "Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."

 

Online: http://openletterberlinculture.net/