09.03.2021 | Offener Brief zum NEUSTART KULTUR Programm an Kulturstaatsministerin Monika Grütters

Offener Brief

Sehr geehrte Kulturstaatsministerin Monika Grütters!

wir freuen uns sehr, dass Sie als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien nun ein Anschlussprogramm für NEUSTART KULTUR auflegen werden und dafür laut Pressemitteilung der Bundesregierung vom 04.02.2021 eine weitere Milliarde Euro zur Verfügung stellen.
Als bbk berlin, einer der größten Verbände bildender Künstler*innen in Deutschland, ist es uns besonders wichtig, Ihnen die Reaktionen bildender Künstler*innen auf die erste “Kultur-Milliarde” zu spiegeln, damit diese Unterstützungen die künstlerischen Existenzen auch nachhaltig sichern helfen.
Anstatt nach Exzellenzkriterien zu entscheiden und soziale Dringlichkeit auszublenden, wie dies im Statement der Stiftung Kunstfonds zu den vergebenen Sonderstipendien im Herbst zu lesen war, sollte das Geld doch bei den Künstler*innen ankommen, die es existenziell benötigen.

Die aktuellen Sonderprogramme dürfen keine einfache Fortsetzung vom business as usual der Künstler*innenförderung sein. Eine öffentliche Vergabe, wie sie NEUSTART KULTUR ist, sollte hier auch die soziale Dringlichkeit im Blick haben, nur dann sprechen wir von einer echten Hilfe und strukturellen Förderung. Ihr Sinn ist es doch, die Kontinuität künstlerischen Arbeitens trotz Existenzbedrohung durch die Pandemiefolgen zu sichern – also müssen die knappen Mittel auf diejenigen Künstler*innen konzentriert werden, die deshalb auf sie unbedingt angewiesen sind. Missgriffe an der Grenze des Missbrauchs öffentlicher Mittel, wie sie mit den Stipendienprogrammen des Kunstfonds aus der ersten "Kulturmilliarde" verbunden waren – sie lassen sich nur als Kumpelwirtschaft einzelner Kurator*innen mit zumeist wirtschaftlich bereits gut abgesicherten Künstler*innen bezeichnen – dürfen sich nicht wiederholen. Sie stellen die Legitimität staatlicher Förderung in Frage!

Um einer Bevorteilung von Künstler*innen, die durch gute Verankerung im Kunstmarkt und durch Auszeichnungen der unter normalen Bedingungen „üblichen“ Kunstförderkriterien besser in dieser Krisenzeit dastehen, entgegen zu wirken, sollten öffentliche Gelder während der Pandemie bedrohten Künstler*innen zugutekommen.

Die Spaltung der Szene durch eine scheinbare Neiddebatte wurde u.a. durch die Vergabepraxis der Stiftung Kunstfonds befeuert. Die Tatsache, dass die Stipendien für Eltern mit Kindern unter 7 Jahren mehrheitlich an Männer gingen und sogar in Einzelfällen an beide Eltern desselben Kindes, oder dass Partner von Jurymitgliedern teilnehmen konnten und erfolgreich waren, hat viel Unmut erzeugt. Verschärfend wirkte die viel zu geringe Stipendienanzahl im Verhältnis zu den Bewerber*innen. Auf die breite Kritik hat der Kunstfonds in den Augen der Künstler*innen abweisend oder gar nicht reagiert.

Daher bitten wir Sie, Frau Grütters, auf die Künstler*innen zu hören. Die neuen NEUSTART KULTUR Hilfen sollten unter fairen Bedingungen und vor allem gerechter verteilt werden.

Ihr erstes Programm setzte in unseren Augen ein zu geringes "Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Kulturszene, …”, denn die Chance für Künstler*innen, ein Stipendium der Stiftung Kunstfonds zu erhalten, war mit der Förderquote von rund 12% genau so niedrig wie vor der Pandemie!
 
Der bbk berlin stellt fest, dass im NEUSTART KULTUR Programm („1. Kultur-Milliarde“):

  1. durchschnittlich jeder 8. Antrag beim Kunstfonds erfolgreich war (Stipendien + Projektförderungen), das sind also nur 12% der Antragsteller*innen.
  2. bei den kleinen digitalen Projektunterstützungen durch den BBK Bundesverband – mit einer zweckgebundenen Summe von maximal 1.000 Euro – nur 20% der Antragsteller*innen unterstützt werden konnten. Das bedeutet wahrlich keine signifikante Hilfe für Künstler*innen, denen die Existenz unverschuldet weggebrochen ist.
  3. durch die Vergabe der Projektstipendien beim Deutschen Künstlerbund oder dem Modul C „Innovative Kunstprojekte“ beim BBK Bundesverband nicht einmal 10% der Anträge positiv beschieden werden konnten.
  4. die Förderquote von 80% vom Budget für Galerien bei Künstler*innen natürlich auf Unverständnis stößt. Warum stehen die ausgezahlten Hilfen in einem solchen Missverhältnis zwischen Galerienförderung und direkter Künstler*innenförderung? Warum sind Honorarzahlungen an Künstler*innen explizit in dieser Förderung ausgeschlossen? Das ist aus unserer Sicht eine unverständliche Hierarchisierung.   

Was die Situation zusätzlich noch dringlicher macht: Viele Künstler*innen lehnen es grundsätzlich ab, Hartz 4 / ALG II zu beantragen. Sie sind keine Bedürftigen, die auf Fürsorge angewiesen sind. Sie wollen eine dem Berufsstand angemessene Unterstützung und damit Würdigung ihrer Arbeit. Sie sind nicht arbeitssuchend, sondern können durch die Pandemie ihren Beruf nur bedingt oder gar nicht ausüben.

Noch wichtiger als Einzelmaßnahmen der Künstler*innenförderung ist die Öffnung der allgemeinen Corona-Hilfsprogramme des Bundes für Künstler*innen und andere Selbständige und eine substantielle Reform des Arbeitslosengeldes II. Ob das gelingt, entscheidet aktuell über erfolgreiche oder eben gescheiterte Kulturpolitik.

Im Einzelnen fordern wir im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in Übereinstimmung mit der Allianz der Künste:

  1. Sofortiger Start und schnellstmögliche Erhöhung des im Rahmen der Neustarthilfe für Soloselbstständige in Aussicht gestellten Zuschussbetrages auf monatlich mindestens 1.180 Euro im Sinne eines fiktiven Unternehmer*innenlohns.
  2. Zwingende Einstufung von allen soloselbstständigen Kunst- und Kulturschaffenden als »direkt Betroffene« im Rahmen der November- und Dezemberhilfen.
  3. Radikale Vereinfachung der Grundsicherung für die Dauer der Pandemie (Wegfall der Bedarfsgemeinschaft, Wegfall der Vermögensprüfung, Wegfall des Bewerbungszwanges, Wegfall des de facto geltenden Mobilitäts-Verbotes etc.)
  4. Ernstzunehmende Einbeziehung der Branchen- und Fachverbände auf Bundesebene bei der Ausgestaltung von Hilfs- und Fördermaßnahmen.
  5. Einrichtung eines überparteilichen, die Fachverbände einbeziehenden Runden Tisches »Kunst und Kultur 2021 ff.«

Wir fordern die Bundesregierung eindringlich auf, die Notlage im Bereich der Freien Künste ernst zu nehmen und endlich wirksame Hilfsmaßnahmen auf den Weg zu bringen bzw. bestehende Hilfsmaßnahmen nachzubessern und dabei die Fachverbände auf Bundesebene bei der Ausgestaltung einzubeziehen.

 

Mit freundlichen Grüßen
Zoë Claire Miller und Heidi Sill
Sprecherinnen des bbk berlin