11.07.2023 | Offener Brief: Aktionsbündnis „Kein Rammstein in Berlin“

Offener Brief

Der bbk berlin informiert:

OFFENEr BRIEF des Aktionsbündnisses "Kein Rammstein in Berlin!"

11. Juli 2023

Sehr geehrte Vertreter*innen des Olympiastadions Berlin, Sehr geehrte Vertreter*innen der kulturellen und politischen Landschaft in Berlin,

als Aktivist*innen, Journalist*innen und Vertreter*innen der Kulturbranche in Berlin fordern wir mit diesem offenen Brief ein Verbot der Rammstein-Konzerte im Olympiastadion am 15., 16. und 17. Juli 2023.

Wir solidarisieren uns mit den Protesten des Bündnisses „Kein Rammstein in Berlin“.

Seit dem Statement der 24-jährigen Shelby Lynn, die auf Social Media erklärte, nach einem Rammstein- Konzert am 22. Mai 2023 in Vilnius mit schweren blauen Flecken aufgewacht zu sein, die ihr mutmaßlich auf einer Aftershowparty zugefügt wurden, haben sich zahlreiche Betroffene zu Wort gemeldet. Ihre in Zeitungsinterviews und auf Social Media veröffentlichten Berichte und Statements zeichnen ein Bild von systematischem Missbrauch und sexueller Gewalt. Sie alle beschreiben, vor Rammstein-Konzerten von der Casting-Direktorin Till Lindemanns, Alena Makeeva, über soziale Netzwerke kontaktiert worden zu sein. Makeeva hätte die jungen Fans, größtenteils zwischen 18 und 24 – stellenweise sogar noch unter 18 Jahre – gefragt, ob sie Lust hätten, während des Konzerts Teil der sogenannten Row Zero zu sein und nach der Veranstaltung Lindemann selbst auf einer Aftershowparty zu treffen. Anstatt jedoch den Musikern in einem klassischen Meet&Greet-Rahmen kennenzulernen, geben die Betroffenen an, alleine in einen von der eigentlichen Aftershowparty separaten Raum geführt worden zu sein. Dort hätten Makeeva, wie auch der anwesende Lindemann ihnen Alkohol und stellenweise Kokain oder weitere Substanzen angeboten. Die Betroffenen berichten von Erinnerungslücken, Sinnestrübungen und Kontrollverlust, der vermutlich von den in den Alkohol beigefügten K.O.-Tropfen herrührte. Viele von den Betroffenen geben an, dass die Handlungen, die Lindemann im Rahmen der Aftershowpartys umsetzte, ausgesprochen brutal waren und gezielt Grenzen überschritten worden sind.

Die Betroffenen berichten von mutmaßlich drogeninduzierter Bewusstlosigkeit: dies bedeutet, sie konnten den an ihnen vollzogenen sexuellen Handlungen nicht zustimmen. Es ist schwer vorstellbar, dass andere Crewmitglieder von diesem systematischen Missbrauch nicht gewusst haben sollen. Der erste Bericht dieser Art stammt aus dem Jahre 2016 und zeigt auf: dieses System besteht seit Jahren.

All diese Berichte zeigen: Rammstein-Konzerte sind kein sicherer Raum für FLINTA* (Frauen, Lesben, InterPersonen, Nichtbinäre, transidente Personen und agender Personen). Lindemanns Misogynie und Menschenverachtung ist nicht neu – sie wurde nur viel zu lange mit beschönigenden Ausreden vom „lyrischem Ich“ entschuldigt. Sei es ein Gedicht, das eine Vergewaltigung romantisiert, ein extrem gewaltvoller pornographischer Film, oder das Kokettieren mit KZ- oder kolonialer Ästhetik:

Wir müssen aufhören, Menschenfeindlichkeit als Kunst zu entschuldigen!

Seit Jahren nutze Till Lindemann laut der Berichte seinen Status als weltbekannter Musiker aus, um wesentlich jüngere Fans zu rekrutieren, unter Drogen zu setzen und sie sexuell zu missbrauchen. Hier handelt es sich deutlich um sexuelle Ausbeutung und patriarchale Gewalt. Lindemanns Welt ist eine weiße und androzentrische: Frauen kommen – und dies gibt Lindemann freimütig in Interviews zu – in seiner Weltsicht nicht als selbstbestimmte Subjekte, sondern lediglich als Objekte einer patriarchalen Männerfantasie vor, queere Menschen existieren nicht, Black and People of Colour und Jüdinnen*Juden werden zur kalkulierten moralischen Grenzüberschreitung instrumentalisiert.

Die Ausbeutung und Abwertung von Frauen und queeren Personen ist jedoch kein alleiniges Problem der Band Rammstein, sondern ein systematisches Gewaltverhältnis in einer patriarchal dominierten Musikindustrie. Noch immer wird das verklärte Konzept von „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ als Ausdruck von Freiheit und einem wilden Leben romantisiert. Ignoriert wird, dass diese idealisierte Vorstellung einer – in der Regel weißen – Rockstar-Männlichkeit seit jeher Menschen, die nicht hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen entsprechen, von vornherein ausgeschlossen hat – die einzige ihnen gestattete Rolle war die des Groupies und der Muse, nur selten als eigenständige*r Künstler*in.

Wie aktuelle Diskussionen um Künstler und Bands wie Materia, Bushido und Feine Sahne Fischfilet zeigen: die Diskussion um Sexismus, Misogynie und sexuelle Gewalt in der Musikszene ist lange überfällig. Uns geht es um weit mehr als nur um Rammstein und weit mehr als die individuelle rechtliche Sanktionierung Lindemanns und seiner Unterstützenden. Unser Protest richtet sich nicht ausschließlich gegen die Band Rammstein und deren Fans – er richtet sich gegen die patriarchalen Verhältnisse an sich.

Die Lebensrealität von Frauen, Mädchen, transidenten, queeren und nicht genderkonformen Personen ist regelmäßig von einer Diskriminierung und Gewalt geprägt, die auch vor dem Nachtleben nicht Halt macht. Während zahlreichen Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Sexualität oder ihrer Herkunft ein Zustand der Ungezwungenheit und Autonomie grundlegend verwehrt wird, ist er als Privileg für vor allem weiße, heterosexuelle, cis-geschlechtliche und bürgerliche Männer eine Selbstverständlichkeit. Denn: werden sie zu einer Aftershowparty eingeladen, besteht für sie die Möglichkeit, ihre Idole kennenzulernen, ohne Gefahr zu laufen, um ihre Sicherheit fürchten zu müssen. Den Opfern von Rammstein, genauso wie höchstwahrscheinlich zahlreichen anderen Künstler*innen, war dies nicht vergönnt – stattdessen wurden ihre Würde und körperliche Selbstbestimmung auf intimste Art und Weise verletzt.

Das stets von Rammstein-Fans gebetsmühlenartig wiederholte „Argument“, dass die Betroffenen es bei der Einladung ja nicht anders hätten erwarten dürfen, ist nicht mehr als ein autoritärer Versuch, die gewaltsame Vorherrschaft patriarchaler Macht zu erhalten, zu normalisieren und die Verantwortung auf die Betroffenen abzuladen. Das Bedürfnis der Fans, das persönliche Ehrgefühl und die Integrität ihrer Idole wiederherzustellen, ist hier zweitrangig. Vielmehr geht es darum – sei es durch Einschüchterung, Beleidigung oder das Lächerlichmachen von Betroffenen – jeden Widerstand gegen das Patriarchat im Keim zu ersticken und widerständige FLINTA* in ihre Unterwerfung zurückzudrängen.

Die Unterdrückungsmechanismen patriarchaler Herrschaft und die damit einhergehenden eigenen Privilegien werden vehement verteidigt. Der Diskurs um Rammstein dreht sich demnach nicht allein um Fragen der persönlichen Schuld, er beschäftigt sich mit etwas viel Tieferem: den patriarchalen Verhältnissen an sich.

Unsere Forderungen sind:

  • Ein Verbot der Rammstein-Konzerte in Berlin – sowohl im Juli 2023 als auch kommende Konzerte
  • Eine akribische juristische, als auch kulturpolitische Aufarbeitung der Fälle
  • Die Entschädigung der Betroffenen

Dies kann und sollte jedoch erst der Anfang einer umfassenden Reformierung der Berliner Musik- und Clublandschaft sein. Sexuelle Belästigung und Gewalt auf Konzerten und in Clubs ist für viele FLINTA*, Frauen und queere Menschen nach wie vor Alltag. Daher fordern wir außerdem die finanzielle Unterstützung von Awareness-Teams bei Konzerten und Partys, eine umfängliche Sensibilisierung des Personals sowie strafrechtliche Konsequenzen bei Spiking-Vorfällen.

Das zu Recht weltbekannte Berliner Nachtleben muss ein Raum sein, in dem sich alle Menschen sicher fühlen können – unabhängig von Geschlecht, Erscheinung, rassistischen Zuschreibungen und Sexualität.

Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung!

Link: https://keinrammstein030.wordpress.com/2023/07/11/offenerbrief/

Kommentar in der TAZ: https://taz.de/Berliner-Rammstein-Konzerte/!5943360/