13.12.2022 | Offener Brief der Künstlerin Anahita Razmi: Zur Ablehnung des NEUSTARTPlus-Stipendiums der Stiftung Kunstfonds (NEUSTART KULTUR)

Offener Brief

 

Der bbk berlin veröffentlicht an dieser Stelle den Offenen Brief der Künstlerin Anahita Razmi an die Stiftung Kunstfonds, in dem sie die Ablehnung des mit 18.000 Euro dotierten NEUSTARTPlus-Stipendiums begründet:

 

"An den Vorstand, die Geschäftsführung und den Stiftungsrat der

STIFTUNG KUNSTFONDS
WEBERSTRASSE 61

53113 BONN

Berlin, 13.12.2022

 

Ich lehne das NEUSTARTPlus-Stipendium über 18.000 Euro, das mir die Stiftung Kunstfonds zugesprochen hat[1], ab.

Ich lehne es u. a. ab, da die Stiftung auf die wiederholten Hinweise zu Lobbyismus[2] und unlauterer Vergabepraxis nicht angemessen reagiert.[3]   

Auch gibt es keinerlei Veränderungen im Hinblick auf den eklatanten Mangel an Diversität in den fast ausschließlich weißen, 'biodeutschen', zu oft immergleichen Kommissionen und Gremien der Stiftung Kunstfonds.[4]

Ich lehne das Stipendium ab, bis sich dies endlich ändert und es strukturelle Reformen in der Stiftung Kunstfonds gibt.

………………

WEISS & DEUTSCH

Frau Dr. Karin Lingl, Geschäftsführerin der Stiftung Kunstfonds, betont in Bezug auf die aktuelle Kritik, dass ihre Förderungen – auch die NEUSTART KULTUR Coronahilfen – nicht nach Grundsätzen ökonomischer Gerechtigkeit, sondern rein nach Kriterien künstlerischer Qualität vergeben werden.[3]

Folgt man dieser – in der Pandemie an sich schon in Frage zu stellenden – Logik, ist der Punkt Wer entscheidet über künstlerische Qualität? demnach ausschlaggebend.
Die entscheidende Kommission für das NEUSTARTPlus-Stipendium 2022 besteht zu 100% aus weißen, fast ausschließlich 'biodeutschen' Kommissionsmitgliedern – und das sowohl bevor und nachdem die Stiftung die NEUSTART KULTUR Kommission aktuell erstmals nachbesetzt hat. Die anderen Kommissionen und Gremien der Stiftung Kunstfonds sehen nicht viel anders aus.
https://www.kunstfonds.de/ueber-uns/gremien

Nach welchen Kriterien die Kommissionen besetzt werden ist völlig intransparent – Diversitätskriterien spielen anscheinend aber keine Rolle.

FEHLENDE WECHSEL BEI DEN ENTSCHEIDER:INNEN

Entgegen der Stiftungssatzung[5] sind einige Juror:innen bis zu 8 Jahren in verschiedenen Kommissionen und Gremien der Stiftung Kunstfonds tätig. 11 von 16 Juror:innen, d.h. die große Mehrheit der NEUSTART KULTUR Kommission (Stipendien für bildende Künstler:innen) blieben in allen drei Vergabeverfahren gleich. Was zur Folge hatte, dass dieselben Personen dreimal darüber entschieden, dass zum Teil dreimal dieselben Antragsteller:innen Förderung erhielten.

In einem Fallbeispiel bekam ein Einzelkünstler, nachdem er bereits dreimal von der Stiftung Kunstfonds gefördert wurde, auch noch dreimal das NEUSTART KULTUR Stipendium: insgesamt 89.000 Euro Förderung durch die Stiftung Kunstfonds, davon allein 58.000 Euro in 2021/22.

Im Hinblick auf die vielen exzellenten Künstler:innen mit Förderbedarf, die nicht so viel Glück hatten, und im Hinblick auf die umfangreiche Recherche des Deutschlandfunks[2] vom November 2022 sowie auf die Korruptionsfälle in öffentlichen deutschen Institutionen wie dem rbb oder NDR, sollten wir hier nicht davon ausgehen, dass die Kunst gegen ähnliches Agieren immun ist und keinerlei Check&Balance-System braucht.

FEHLENDER REFORMIERUNGSWILLE

Seit Februar 2022 ist eine Gruppe Künstler:innen und bin ich per E-Mail im Austausch mit der Stiftung Kunstfonds über den Mangel an Diversität und fehlende Wechsel in den Gremien und Kommissionen der Stiftung und wir haben auch mit der Geschäftsführerin Karin Lingl persönlich darüber gesprochen. Der Austausch schloss sich anderen kritischen Rückmeldungen gegenüber der Stiftung an.[6][7]
Nach meinem Wissensstand hat die Stiftung keine dieser kritischen Rückmeldungen oder Empfehlungen (z.B. für professionelle Beratung bzgl. Diversitätsförderung, die Aufnahme neuer Beobachter:innen, Beisitzer:innen, oder 'critical friends' in den Prozess, Neubesetzung der Kommissionen im Hinblick auf den Punkt Diversität, die Aufnahme neuer Gruppen/Verbände in den Stiftungsrat – oder jegliche andere Maßnahmen, die die Situation ändern könnten) weiterverfolgt.

Der Twitteraccount der Stiftung Kunstfonds ist seit Anfang Dezember 2022 nicht mehr online, Emailanfragen werden zögerlich oder gar nicht beantwortet.

………………

Obwohl ich bisher noch kein Stipendium von der Stiftung Kunstfonds erhalten habe und obgleich ich auf Förderungen angewiesen bin, um meine eigene künstlerische Praxis aufrechtzuerhalten, lehne ich eine Förderung von der Stiftung Kunstfonds ab, solange die Stiftung und ihr Stiftungsrat sich nicht mit den angesprochenen Problemen befasst und Reformen anstößt: 

  • Führen Sie ein neues Check&Balance-System in den Vergabeprozess ein, um Intransparenz – und möglicher Korruption und Lobbyismus – entgegenzuwirken. Arbeiten Sie Hinweise hierzu transparent auf.
  • Finden Sie dringend neue Wege, Ihre zu fast 100% weißen Kommissionen und Gremien unter dem Gesichtspunkt Diversität zu erweitern."

 

Anahita Razmi

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1 https://www.kunstfonds.de/neustart-kultur/gefoerderte/neustartplus-stipendien

2 https://www.deutschlandfunkkultur.de/kulturmilliarde-corona-neustart-kultur-100.html

3 https://twitter.com/BbkBerlin/status/1593279276304027648

4 https://www.kunstfonds.de/ueber-uns/gremien

5 https://www.kunstfonds.de/fileadmin/user_upload/Kunstfonds/Sonstige_Dokumente/Satzung-2021-05-07_web.pdf

6 https://kunstundkind.berlin/offener-brief-an-die-stiftung-kunstfonds-zur-vergabe-des-neustart-sonderprogramms-fuer-kuenstlerinnen-mit-kindern-unter-7-jahre/

7 https://www.projektraeume-berlin.net/?wysija-page=1&controller=email&action=view&email_id=337&wysijap=subscriptions&user_id=1072

 

bbk berlin: Hinweis zum Begriff "biodeutsch" siehe Wikipedia ->