15.11.2022 | Deutschlandfunk Kultur: Förderprogramm „Neustart Kultur“ - Die Kunst des Lobbyierens

15.11.2022 | In den vergangenen Monaten hat ein Team von Deutschlandfunk Kultur erstmalig alle Förderlinien und Programme von Neustart Kultur im Bereich Bildende Kunst systematisch analysiert. Wir wollten herausfinden, wohin das Geld geflossen ist und wie die Mittel eingesetzt wurden. Dazu haben wir einen datenjournalistischen Ansatz gewählt: die erhobenen Zahlen, Daten, Namen und Summen wurden als Datensatz durchsuchbar gemacht. Zusätzliche Informationen erhielten wir aus Anfragen bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) sowie Interviews mit KünstlerInnen, GaleristInnen und Jury-Mitgliedern. Hilfen aus anderen Töpfen oder Förderprogramme der Bundesländer jenseits der „Kulturmilliarde” konnten nicht berücksichtigt werden.

Auszüge aus dem Beitrag: Über 100 Millionen Euro aus dem Corona-Hilfsprogramm Neustart Kultur sind in die Bildende Kunst geflossen. Eine Recherche von Deutschlandfunk Kultur zeigt: Mit der „Kulturmilliarde” wurden Galerien und Kunstmessen gefördert, ohne den Bedarf zu prüfen.

[...] Die Galerien - Obwohl die zunächst erwarteten Umsatzeinbrüche von 60 bis 100 Prozent also ausbleiben, gibt es staatliche Hilfen für die eigentlich gar nicht so gebeutelte Branche: In zwei Förderrunden werden Deutschlands Kunstgalerien mit insgesamt 15,5 Millionen Euro unterstützt. Abgewickelt wird das Programm durch die Stiftung Kunstfonds in Bonn. Es ist genug für (fast) alle da: Vier von fünf der Antragsteller erhalten eine Zusage der Jury, 231 Galerien kommen sogar in beiden Runden zum Zuge. Maximal 70.000 Euro Fördergeld konnten einzelne Betriebe so bekommen. Der tatsächliche Bedarf? Wird nicht überprüft.[...]

Beispiele wie dieses werfen die Frage auf: Darf man das? Tatsächlich ist es so, dass es die Fördergrundsätze der vielen verschiedenen Programme nicht explizit ausschließen, sich um „Kulturmilliarde”-Geld aus verschiedenen Töpfen zu bemühen. Entsprechend ist das Handeln der Galeristen, Messebetreiber sowie der Künstlerinnen und Künstler, die aus mehreren Töpfen gefördert wurden, höchstwahrscheinlich legal.[...]

Und dennoch bleibt die Frage: Warum haben die BKM-Beamten nicht darauf gedrungen, den tatsächlichen Förderbedarf zu überprüfen und Mehrfachförderungen wirksam zu verhindern?[...]

Die Künstlerinnen und Künstler - Und trotzdem wurden auch bei den Stipendien und Projektförderungen für Bildende Künstlerinnen Ungerechtigkeiten produziert. Denn diese wurden weitgehend nach künstlerischer Exzellenz vergeben. Die Frage, wer eine Förderung wie dringend braucht, um auch in der Pandemie den Lebensunterhalt bestreiten zu können, spielt dagegen nur bei einigen untergeordneten Förderprogrammen eine Rolle. Von mehr als 58 Millionen Euro wurden weniger als drei Prozent an soziale Kriterien gebunden.

Alice Münch ist Künstlerin, Aktivistin und alleinerziehende Mutter. Sie beschreibt ein Gefühl der Wut: „Die Pandemie trifft alle, aber sie trifft nicht alle gleich hart. Die Gelder waren dazu da, abzufedern. In der Pandemie geht es doch darum, mehr Gerechtigkeit herzustellen. Bei den Künstlern wurde das aber sehr elitär gehandhabt.” In der Pandemie sei sie so sehr mit der Erziehung ihres Kindes beschäftigt gewesen, dass sie kaum noch zum Malen kam. Sie habe ihr Atelier verloren und Existenzangst gehabt. Bei den Stipendien ging sie leer aus.[...]

Gleichzeitig – und auch das ist Teil der Ungerechtigkeiten der Förderprogramme – kommt es auch hier zu Doppel-Förderungen, wie unsere Recherchen zeigen: Mehr als 500 Personen erhalten mehr als ein Neustart-Stipendium, 38 Menschen sogar drei. Damit können Stipendiaten auf Summen von 25.000 Euro aus Bundesmitteln kommen – und mehr.

Albert Weis vom Vorstand des Deutschen Künstlerbunds findet das okay, schließlich komme man mit einem einzigen Stipendium von 6000 oder 9000 Euro nicht durch eine drei Jahre dauernde Pandemie. Als Jurymitglied war er in die Vergabe der Gelder eingebunden. Jurys hätten darauf geachtet, so sagt er, dass auch diejenigen zum Zuge kommen, die Unterstützung am dringendsten brauchten. „Ich glaube sagen zu können, dass es den Beteiligten gelungen ist, mit diesem nicht ganz maßgeschneiderten Werkzeug dennoch eine gute Förderung und Hilfe in der Krise hinzubekommen.”[...]

Gesamter Beitrag nachzuhören und nachzulesen unter:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/kulturmilliarde-corona-neustart-kultur-100.html

Weitere Einzelbeiträge nachzuhören unter:

Hilfsprogramm „Neustart Kultur“. Wie Galerien mehrfach gefördert wurden, DlF 15.11.22

Kultur und Wissenschaft – „Wo ist die Kulturmilliarde?“ Recherche Dlf Kultur 15.11.22,

Reaktionen auf die Recherche des Dlf Kultur (DlF 15.11.22) - Zoë Claire Miller - Olaf Zimmermann

Verbandspräsident Kristian Jarmuschek: „Es bestand die Gefahr, dass alles zusammenbricht", DlF 15.11.22

Galerist Thomas Schulte: „Das war keine gerissene Lobby", DlF 16.11.22

Karin Lingl, Geschäftsführerin Stiftung Kunstfonds: „Die Künstler waren sehr froh, dass wir das Programm durchführen", 15.11.22

Interview mit Zoë Claire Miller: Mischa Kreiskott, Quelle: Journal NDR Kultur, ausgestrahlt am 15.11.2022

Interview mit Anikó Merten, kulturpolitische Sprecherin der FDP „Wichtig ist, im Gespräch zu bleiben", DlF 17.11.22

SPD-Politikerin Budde fordert freiwillige Rückzahlungen, DlF 17.11.22

Schräg schillert der Kunstmarkt, Förderung von Galerien über Coronahilfen, Sophie Jung, taz 19.11.22

Förderprogramm „Neustart Kultur“, Eine Frage der Qualität, Interview mit Kunsthistorikerin Ulli Seegers, DlF 19.11.22

"Kulturzeit" 3Sat vom 22.11.2022: "Kulturmilliarde aus der Gießkanne?" (ab Minute 7.34)